I. Geschichtlicher Rückblick und Beschreibung des Geläuts
Von Gerhard Löwenstein

II. Neufassung der Läuteordnung
Beschluss des Presbyteriums vom 15.01.1996

Die alten Läutebräuche

Das Geläute unserer Kirchenglocken begleitet durch die Jahrhunderte das Leben der Gemeinde. Dabei prägte es in früheren Generationen ofortehr viel stärker als in der gegenwärtigen weithin völlig säkularisierten Zeit Arbeitsrhythmus und Lebensweise der Bürger. Doch auch heute noch ist der Klang der Glocken eine Lebensäußerung der christlichen Gemeinde, und er vermittelt darüber hinaus – bei Vielen vielleicht eher unbewusst – Zusammengehörigkeitsgefühl und Heimatempfinden in der ganzen Ortsbevölkerung.

Es ist überliefert, dass das Tagesläuten, also die Morgen-, Mittag- und Abendglocke nicht nur als Zeitangabe, sondern vornehmlich als Gebetsruf verstanden wurde und dass es gute Übung war, seine Arbeit kurz zu unterbrechen, um sich in Gedanken dem Schöpfer zuzuwenden.

Auch der Klang der Totenglocke, die das Abscheiden eines Gemeindeglieds verkündet, wird heute noch von so manchem stillen Gebet begleitet.

Das Begräbnis ging früher vom Trauerhause aus. Am Morgen des Beerdigungstages erklang um sechs Uhr die Große Glocke – „et läut of de Schaaf“ (= aufs Totenbett). Zum Beerdingungsgottesdienst, der um elf Uhr begann, hörte man nach dem zweimaligen Anläuten (eine Stunde vorher die Große, dann nach einer halben Stunde die Kleine Glocke) nochmal um zehn vor elf – durch zweimaliges kurzes Absetzen unterbrochen – die Kleine Glocke: „Et läut für de Parre“. Jetzt begab sich der Pfarrer, bereits im Talar, zum Trauerhaus. Nach dem Gesang eines Chorals durch die auf der Straße versammelte Trauergemeinde, nach Bußpsalm, Gebet und Aussegnung, setzte sich der Trauerzug in altfeststehender Ordnung in Bewegung, begleitet bis zum Friedhof vom Geläute aller Glocken. Nach der Zeremonie der Einsenkung zog die Trauergemeinde zur Kirche, wo der Gottesdienst mit der Verlesung eines kurzgefassten Lebenslaufs des bestatteten Gemeindeglieds, der Predigt über seinen Konfirmationsspruch, Gesang, Fürbittengebet für die Hinterbliebenen, dem Vaterunser und Segen beendet wurde.

Während des Vaterunsergebets läutete, wie in allen Gottesdiensten noch heute üblich, die Vaterunserglocke.

Der Tod eines Kindes – die Kindersterblichkeit war früher bekanntlich sehr hoch – wurde durch ein kürzeres, nur einmal abgesetztes Läuten angezeigt. Beim Begräbnis noch nicht konfirmierter Kinder läuteten während des Leichenzugs nur die beiden kleinen Glocken. Totgeborene und ungetauft verstorbene Kinder wurden ohne Mitwirkung des Pfarrers während des Mittagläutens beigesetzt. Dabei sprach ein Familienangehöriger ein kurzes Wort, etwa (nach Hiob): „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“ Dann sprach man gemeinsam das Vaterunser. Ähnlich verlief auch die Beerdigung von Selbstmördern. Diese wurden ebenfalls beim Mittagläuten – an besonderer Stelle des Friedhofs – beigesetzt.

Die Weinlese vollzog sich früher nach einer strengen Ordnung. Vor dem morgendlichen Läuten der Herbstglocke (der Großen Glocke) durfte niemand in die Weinberge hinaus. So standen morgens, noch im Dunkeln, die Winzer mit ihren Fuhrwerken, ihren Angehörigen und Lesehelfern an den von Flurschützen bewachten Ortsausfallstraßen und warteten auf den ersten Glockenklang. – Auch das Ende der täglichen Lesezeit wurde durch Geläute angezeigt. In einem Gemeinderatsbeschluss von 1849, der sich auf ein Gesetz von 1791 bezieht, heißt es: „ Vor dem Schell der Morgenglocke und nach dem Schell der Abendglocke dürfen die Weinberge nicht betreten werden. Bei einfallendem Regenwetter muss jeder auf das Glockenzeichen die Lese unterbrechen und Wingert verlassen.“

Nach allgemeiner Beendigung der Weinlese gab die Vaterunserglocke als Glinnglocke für dürftige Mitbürger die Nachlese (das „Glenen“, nach einer alten Schriftform) frei. Dieser uralte Brauch dürfte auf 3. Moose 19, 9-10 zurückzuführen sein. Er verlor aber mit dem allgemein zunehmenden Wohlstand der Bevölkerung in der jüngeren Vergangenheit seine ursprüngliche Bedeutung. Bis in die 60er Jahre d. Jh. wurde er aber noch von Kindern aufrechterhalten. Mit einem Eimer im Arm durchstreiften sie Zeile um Zeile die Weinberge, um sich mit dem Einsammeln einzelner hängengebliebener Trauben und durch deren anschließenden Verkauf das „Maatgeld“ für den bevorstehenden Martinsmarkt zu verdienen. Der Verfasser erinnert sich aber noch an die Einstellung seines Vaters, der nicht gerne sah, dass seine Kinder „glinnen“ gingen: „Dat es für dee Leut, dee sellewer kaan Wingerder han!“

Einen besonderen Klang haben seit jeher die Hochzeitsglocken. Von Hoffnungen und guten Wünschen begleitet, laden sie zu fröhlichem Mitfreuen und Feiern ein.

Die Sturmglocke rief in früheren Zeiten die Bürger zur Hilfeleistung bei Feuersbrunst, Hochwasser oder Eisgang zusammen, sowie auch zur Bekanntmachung von wichtigen politischen Ereignissen, bevorstehendem Durchzug oder Einfall von Kriegsvölkern, später auch bei Mobilmachung und Kriegserklärung und dem endgültigen Friedensschluss. Ihre Funktion ist heute durch die Alarmsirene und die modernen Nachrichtenmedien ersetzt.

Sonntags aber riefen – und rufen noch heute – unsere Glocken die Gemeinde zum Gottesdienst.

Unsere Glocken

Das Geläut unserer Kirche besteht aus vier Bronzeglocken. Sie seien hier ihrer Größe nach numerisch aufgeführt und beschrieben.

  1. Die „Große Glocke“. Ihr Schlagton ist das c’. Ihr Gewicht soll 36 Zentner = 1800 kg betragen. Die auf der Glockenschulter umlaufende Schrift lautet: IN GODES NAMEN LVEDEN ICH MATHEVS HEISEN ICH HEINRICH VAN PROIME GOIS MICH ANNO XVc VNDE SEBEN.
  2. Die „Mittagsglocke“, mit dem Schlagton f’. Sie stammt aus dem Jahre 1422 und damit unsere älteste und kulturhistorisch wertvollste Glocke. Ihre (lateinische) Inschrift lautet:ME VAS EX ERE JO CLAVS BRVBACH FVDERE LAVDE DEO DATA SIC SUM MATHEA VOKATA ANNO DNI MCCCCXXII: Das heißt (nach F. Mybes): Mich Gefäß aus Erz hat Johann Claus Brubach gegossen. Zum Lobe Gottes bin ich bestimmt. Matthäusglocke bin ich genannt. Im Jahre des Herrn 1422.
  3. Die „Vaterunserglocke“ Mit einem Gewicht von fast 1000 kg erzeugt sie den Schlagton as’. Sie wurde im Jahre 1958 von der Firma Rincker in Sinn (Dillkreis) gegossen.
    Auf ihrer Schulter steht die Vaterunserbitte:
    DEIN REICH KOMME. Darunter, auf der Flanke, trägt sie das damals neu geschaffene Gemeindesiegel: Ein schlankes griechisches Kreuz mit leicht geschweiften Enden und einem daran rankenden stilisierten Weinstock. Oberhalb des Schlagrings steht die Schrift: EVANGELISCHE KIRCHENGEMEINDE WINNINGEN. Auf der Gegenseite befinden sich das Signum der Gießerei und die Jahreszahl.
  4. Die „Totenglocke“, im Volksmund: „et Glöggelsche“. Ihr Schlagton ist das be’.
    Dem umlaufenden Schulterschriftband zufolge wurde auch sie, wie die Große Gocke, vom Meister Heinrich von Prüm gegossen:IN GODES NAMEN LVEDEN ICH MARIA HEISEN ICH HENRICH VAN PRVM GOVS MICH ANNO DNI MCCCCC VND VI.I

Beachtenswert ist die unterschiedliche Schreibweise, vor allem die Jahreszahl 1507. Auffällig und im Grunde unerklärlich ist auch die Tatsache, dass gleich zwei der Glocken den Namen des Evangelisten Matthäus tragen.
Die kriegsbedingten Ereignisse

Unsere alten Glocken haben eine bewegte Orts- und Weltgeschichte miterlebt und sogar „am eigenen Leib“ erfahren. Unvergessen sind vor allem der heutigen älteren Generation noch die Kriegsereignisse. Bereits im Jahre 1917 wurden vom „Reichsmilitärfiskus“ alle Bronzeglocken beschlagnahmt, um für den Bedarf der Rüstungsindustrie an Edelmetallen eingeschmolzen zu werden. Glücklicherweise kam es dazu nicht mehr. Im 2. Weltkrieg aber wurde diese staatliche Willkürmaßnahme, der die Kirche machtlos unterworfen war, vollzogen. Mit dem Metall alter, wertvoller Kirchenglocken meinten die damaligen Machthaber, den bereits als verloren anzusehenden Krieg noch gewinnen zu können! Nur eine Glocke, die älteste, durfte – ausdrücklich nur vorläufig! – hängen bleiben. Nach einem ergreifenden Abschiedsgottesdienst wurden die drei anderen, die Glocken 1 und 4, sowie die damalige Vaterunserglocke vom Turm geholt. Letztere war die kleinste und auch jüngste des alten Geläuts. Sie trug die Inschrift: Gott mit uns. Peter Miesen von Masberg goss mich 1819.

Ohnmächtig und in großer Trauer musste die Gemeinde dem Abtransport ihrer Glocken zusehen, ohne Hoffnung, sie jemals wieder zu bekommen. Doch das Wunder geschah! Nach Kriegsende wurden zwei von ihnen auf einem großen Sammellager in Hamburg unter Hunderten Anderer entdeckt und nach vielen Formalitäten und unter schwierigen Bedingungen endlich im Januar 1948 wieder zurückgebracht: bis nach Koblenz auf dem Wasserweg, von dort mit dem Traktor eines Winzers nach Winningen.

Von der Gemeinde freudig begrüßt, wurden sie mit Girlanden bekränzt durch den Ort gefahren und schließlich mit großem technischen Aufwand und handwerklichem Geschick an ihren alten Platz in die Glockenstube unseres Kirchturms gehoben. In aller Freude über die Heimkehr der beiden mischte sich die Trauer um den endgültigen Verlust der Vaterunserglocke. Aber auch eine der beiden Zurückgekehrten, die Totenglocke, hatte die Strapazen der langen Irrfahrt nicht schadlos überstanden. Ihr Klang wurde als unrein empfunden, und bei genauer Untersuchung durch Fachleute stellte sich ein feiner Riss heraus, der wohl durch allzu groben Umgang mit der Glocke entstanden war. Man sprach von der Notwendigkeit, die Glocke umgießen zu müssen, aber der Schaden konnte dann doch durch ein Spezialschweißverfahren – in Leverkusen ausgeführt – behoben werden.

Die von allen gewünschte Wiederbeschaffung einer vierten Glocke bis zum 400-jährigen Reformations-Jubiläum der Gemeinden der ehemaligen Hinteren Grafschaft Sponheim im Jahre 1957 musste wegen Geldknappheit noch zurückgestellt werden. Aber im folgenden Jahr konnte dann, ausschließlich durch Spenden aus der Gemeinde finanziert, unser Geläut durch den Guss einer neuen Glocke wieder vervollständigt werden.
Die Läutetechnik

Auch die Läutetechnik geht mit der Zeit. Ende des 19. Jh. änderte man die Aufhängung der Glocken. Die alten geraden Joche wurden durch Jochschemel, einem umgekehrten U vergleichbar, ersetzt. Dadurch lag der Schwerpunkt der Glocke bedeutend höher, fast auf der Höhe des Lagers, was beim Läuten einen wesentlich geringeren Kraftaufwand des Glöckners erforderte. Während er früher beim „Zusammenläuten“ auf die Mithilfe der Konfirmanden angewiesen war, konnte er jetzt alle vier Glocken allein in Schwung halten, indem er von einem Seil zum anderen ging und jeweils einmal, der Größe der Glocke entsprechend mit mehr oder weniger Kraft daran zog. Die Stärke und Klangfülle des Geläuts war allerdings etwas beeinträchtigt.

Heute hängen die Glocken wieder „lang“ und werden durch ein elektronisches Läutewerk betrieben, das sich – elektronisch programmiert – automatisch schaltet und damit einen Glöckner alter Art ersetzt.
Die Läuteordnung

Die angegebenen Uhrzeiten verstehen sich in der Weise, dass das Läuten nach dem Stundenschlag der Turmuhr einsetzt, bzw. beim Hauptläuten den Stundenschlag überdeckt. Beim Vollgeläute erklingt zuerst die Kleine Glocke. Nach jeweils sechs Doppelschlägen wird die nächst größere Glocke hinzugeschaltet.

  1. Das Läuten zum Gottesdienst
    (Sonn- und Feiertagsgottesdienste, Wochengottesdienste, Schulgottesdienste, Beerdigungen, Trauungen, kirchenmusikalische Veranstaltungen)
    Zum Gottesdienst wird jeweils zweimal angeläutet.
    Erstes Anläuten
    1 Stunde vor Beginn des Gottesdienstes
    Dauer: 3 Minuten – Glocke 1
    Zweites Anläuten
    1⁄2 Stunde vor Beginn des Gottesdienstes
    Dauer: 3 Minuten – Glocke 4
    Hauptläuten
    10 Minuten vor Beginn des Gottesdienstes
    Dauer: 10 Minuten – Vollgeläute
    Während des Vaterunsergebets: Glocke 3
  2. Das Mittagläuten
    Täglich, außer an Sonn- und Feiertagen.
    Beginn: 11:30 Uhr
    Dauer: 3 Minuten – Glocke 2
    Seit alters her kommt bei den Winzerfamilien um 12 Uhr das Essen auf den Tisch. Deshalb wird beim Mittagläuten die Vormittagsarbeit beendet und der Heimweg angetreten. Um 13 Uhr geht’s dann wieder in den Weinberg.
  3. Das Abendläuten
    Täglich, außer Samstags, Sonn- und Feiertags.
    Beginn: Während der Sommerzeit um 18 Uhr, im Winter um 17 Uhr.
    Dauer: 3 Minuten – Glocke 2
  4. Das Einläuten des Sonntags oder eines kirchlichen Feiertags
    Samstags, bzw. am Vortag eines Feiertags.
    Beginn: 18 Uhr
    Dauer: 10 Minuten – Vollgeläute
  5. Die Totenglocke
    Nach Eingang der Nachricht vom Tode eines Gemeindeglieds wird – nach Absprache mit der Trauerfamilie – sofort oder zu einem vereinbarten späteren Zeitpunkt, nicht jedoch zwischen dem ersten Anläuten und dem Hauptläuten für einen Gottesdienst, die Totenglocke geläutet.
    Zuerst 9, dann 11, dann 13 Doppelschläge, jeweils unterbrochen durch eine kurze Pause. – Glocke 4
    Der Ursprung dieser Art des Totengeläuts ist unbekannt. Es ist für jeden als solches leicht erkennbar.
    (Redewendung: „Et hät aafgesatzt!“)
  6. Das Neujahrsläuten
    Jedes Neues Jahr wird mit Glockengeläute begrüßt.
    Beginn: 0 Uhr
    Dauer: 10 Minuten – Vollgeläute
  7. Das Osterläuten
    Am Ostermorgen um 6 Uhr.
    Dauer: 3 Minuten – Vollgeläute
    Mit dem Osterläuten beginnt der Frühgottesdienst.
    Ein Anläuten hierfür entfällt.

Lass vom Klang unsrer Glocken dich rufen und locken,
dem Herrn, dem wir leben, die Ehre zu geben.